Die Medizingeschichte der Migräne

Prof. Dr. med. Dr. phil. Stefan Evers
Prof. Dr. med. Dr. phil. Stefan Evers

Prof. Dr. med. Dr. phil. Stefan Evers,

Universitätsklinikum Münster.

Die Migräne ist kein neues Thema in der Medizingeschichte. Es gibt bereits zahlreiche Arbeiten, die sich mit ihrer Phänomenologie (Beschreibung) beschäftigen, und dies um so eindrucksvoller, als die Migräne seit der Frühgeschichte der Menschheit in verschiedenen Kulturen beschrieben wird und Anlass gegeben hat zu teilweise kuriosen Darstellungen, die auch Eingang in schöngeistige Literatur, Kunst und sogar Musik gefunden haben.

Die Ursachen der Migräne sind bisher erst wenig aus historischer Sicht analysiert worden. Es soll daher in diesem Artikel nachgewiesen werden, dass der Streit unserer Zeit, ob Migräne primär durch die Gefäße oder primär durch das Gehirn bedingt ist, in einer historischen Tradition steht und dass auch die Theorie, dass Migräne psychisch bedingt ist, historisch abgeleitet werden kann.

Die möglicherweise frühesten Hinweise auf Migräne
finden sich bereits 3.000 v. Chr. in mesopotamischen Versen, im sogenannten „Bericht des Deluge”, die eine Kombination von Augen- und Kopfkrankheit beschreiben und wahrscheinlich eine Migräne mit Aura meinen. Auch in der jüdisch-talmudischen Medizin werden halbseitige Kopfschmerzen beschrieben, die durch Dämonen hervorgerufen werden sollen. Die ersten systematischen Beobachtungen haben die antiken Ärzte Hippokrates, Celsus und Aretaeus von Kappadokien gegeben.

Interessanterweise äußern sich alle nicht genau zur Ursache der Migräne, sondern beschreiben sie nur. Aretaeus von Kappadokien spricht als erster von „heteroerania” – d.h. einem halbseitigen Kopfschmerz -, die er als eine Form der Cephalalgia (darunter versteht er einen attackenartigen Kopfschmerz) im Gegensatz zur chronischen Cephalea (einem Dauerkopfschmerz) interpretiert.

Galen von Pergamon, der wohl berühmteste Arzt der Antike, verwendet in seiner „Decompositione Medicamentorum Secundum locos” um 180 n. Chr. als erster den Begriff „hemicrania”, von dem sich unser heutiges Wort Migräne ableitet. Er diskutiert auch als erster Vorstellungen zur Ursache der Migräne, indem er sie auf ein Aufsteigen von zu vielen zu heißen oder zu kalten Dünsten im menschlichen Körper zurückführt. Diese Ansicht folgt der sogenannten Säftelehre (medizinisch Humoralpathologie), die in der Antike zur Erklärung von Krankheiten vorherrschend war. Nach der Säftelehre besteht der Körper aus einer Mischung von verschiedenen Säften und/oder Dünsten, deren Unordnung Krankheit bewirkt. Diese Ansicht der Migräne wird von Caelius Aurelianus, einem berühmten Arzt der Antike, weitergegeben und findet sich dann in vielen Lehrbüchern der arabischen Medizin und der Klostermedizin im Mittelalter in Europa. Allen ist gemeinsam, dass als Ursache der Migräne ein Überangebot an Säften für den Kopf – vor allem an gelber Galle – angenommen wird. Manche mittelalterlichen Schriften unterscheiden dabei eine rein humoralpathologische Vorstellung (fehlerhafte Zusammensetzung des Bluts oder anderer Körpersäfte) von einer neurogenen (von den Nerven ausgehenden) Theorie, bei der der Ursprung der Migräne in peripheren Organen liegt, von wo aus sie sich durch Flüssigkeitswanderung über die Nerven im Kopf festsetzt.

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In der mittelalterlichen Medizin
finden sich erste Beschreibungen, die auf eine psychogene (psychisch bedingte) Theorie der Migräne hindeuten. Beispielhaft sei hier nur Hildegard von Bingen genannt, deren Visionen als Migräne-Anfälle mit einer visuellen Aura interpretiert werden können. Ursache für die „Anfalle” sind hier göttliche Eingebung und starke Suggestibilität (Beeinflussung zu einem bestimmten Verhalten) als Voraussetzung für die Visionen.
1549 hat Jason Pratensis (1486-1558) mit „De cerebri morbis” das erste rein neurologische Lehrbuch geschrieben und damit die Grundlage der Neurologie als ein eigenständiges medizinisches Fach gelegt. Er beschreibt in dem Buch ausführlich die Migräne, bleibt aber bei der Theorie eines Überangebots an schwarzer Galle und Schleim im Kopf. Bemerkenswert ist, dass er als erster die Hirnhäute als „Sitz” der Kopfschmerzen identifiziert.

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Die erste neuzeitliche Gefäßtheorie
zur Entstehung der Migräne stellt Thomas Willis in „De Cephalalgia” aus seinem Buch „De anima brutorum” 1672 auf. Aufgrund von Beobachtungen des Gefäßkreislaufs im Gehirn, die er bei Leichenschauen gemacht hat, schließt er, dass Migräne mit einer Gefäßerweiterung in der betroffenen Kopfhälfte einhergeht, die die Hirnhäute reizt und so zu Kopfschmerzen führt. Ausgangspunkt seiner Beobachtungen ist eine linksseitige Migräne bei einer Frau gewesen, die in der Leichenschau einen Verschluss der rechten Halsschlagader (A. carotis interna) gezeigt hat. Dies stellt er allerdings auch weiterhin in den Zusammenhang der Säftelehre (Humoralpathologie), die ein Überangebot an Flüssigkeit für das Gehirn während eines Migräne-Anfalls postuliert hat. In diesem Fall ist er also der Meinung, dass in der linken Gehirnhälfte zu viel Blut war und dass dies die Migräne verursacht hat. Thomas Willis erwähnt auch angeborene Faktoren und Fallberichte von Migräne nach Verletzungen oder emotionalen Aufregungen. Eine Gefäßtheorie der Migräne wird auch von dem Schweizer Arzt Johann Jakob Wepfer (1620-1695) aufgestellt, der Migräne auf eine Erschlaffung der Gehirngefäße mit verstärkten Pulsationen (rhythmische Zu- und Abnahmen des Gefäßvolumens) zurückführt.

Die Tradition der neurogenen Theorie der Migräne setzt dann der französische Arzt Samuel Tissot (1728-1797) fort, der 1780 ausführlich die Migräne beschreibt und sie auf Irritationen des Magens zurückführt, die über Nervenfasern zum Auge gelangen und über die oberhalb des Auges gelegenen Nerven ins Gehirn ausstrahlen, wo sie einen Migräne-Anfall auslösen können. Er unterscheidet dabei eine echte Migräne („migraine vraie”) von einer sekundären Migräne („migraine accidentelle”), die Symptom einer Augenerkrankung oder Störung der Nasenschleimhaut ist.

Im 19. Jahrhundert wird eine Fülle von Artikeln und Beschreibungen über die Migräne veröffentlicht, die entweder mehr zur neurogenen Theorie (d.h. Entstehung der Migräne durch eine Störung von Nervenfasern) oder mehr zur Gefäßtheorie (d.h. Entstehung der Migräne durch eine Störung der Gefäße) neigen.

Beispielhaft seien hier nur genannt:

  • P. Latham, der um 1850 Migräne als Folge einer arteriellen Verengung im Bereich der hinteren Gehirnarterie (A. cerebri posterior) ansieht;
  • Hughlings Jackson (1834-1911), der Migräne um 1860 als eine besondere Form der Epilepsie beschreibt;
  • Emil du Bois-Reymond (1818-1896), der 1860 Migräne als eine Verkrampfung der Gefäßmuskulatur auffasst und damit die Zwei-Phasen-Theorie nach Wolff mit initialer Gefäßverengung und sekundärer Gefäßerweiterung vorbereit, schmerzauslösend soll dabei der Blutdruck gegen die Gefäßwände sein.

Schließlich muss William Gowers erwähnt werden, der 1886 keinen Beweis für eine gefäßbedingte Ursache findet. Er lokalisiert die gestörte Aktivität der Nervenzellen in das Großhirn (nicht wie Edward Liveing in den Thalamus).

Das für die Diskussion über die Entstehung der Migräne im 19. Jahrhundert wohl bedeutendste Werk ist von Edward Liveing. Es gibt 1873 zum einen genaue und umfangreiche Beschreibungen der verschiedenen Arten von Migräne-Attacken, zum anderen versucht er eine Zusammenführung der beiden Theorien zur Migräne-Entstehung, wenn er von einem „nerve storm” spricht, einem zentralen Anfall, der die autonomen Nervenfasern und damit auch die Nervenversorgung der Gefäße beeinträchtigt. Als Ursprungsort des Anfalls nimmt er den Thalamus an. Liveings Konzept des „nerve storm” ist sehr populär gewesen, bis 1937 Graham und Wolff ihre Experimente über Ergtamin bei Migräne veröffentlichen. Alle Vorstellungen des 19. Jahrhunderts zur Entstehung der Migräne bleiben aber letztlich spekulativ, der experimentelle Zugang fehlt.

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Neben den beiden beschriebenen Haupttheorien
zur Entstehung der Migräne sind im 20. Jahrhundert einige weitere Theorien entwickelt worden, die jedoch als Gesamtkonzept immer wieder verworfen werden mussten. Dazu gehören die in den zwanziger Jahren populäre Theorie der Migräne als einer allergischen Erkrankung und die in den vierziger und fünfziger Jahren entwickelte Theorie der Migräne als psychosomatischer Erkrankung auf Grundlage der Forschungen von Hans Selye über Stresserkrankungen. Psychogene Theorien zur Migräne im 20. Jahrhundert sind insofern differenzierter, als sie die Migräne nicht mehr monokausal (sich auf nur eine Ursache stützend) psychogen erklären wollen, sondern deren Phänomenologie (streng objektive Aufzeichnung und Beschreibung) aus psychosomatischer Sicht betrachten. Letztlich können viele psychogene Theorien der Migräne auf die Forschungen von Jean Martin Charcot (1825- 1893) zur Hysterie und Neurose zurückgeführt werden, der Migräne allerdings als eine Erkrankung betrachtet, die rein hysterischer Natur ist und nur Frauen betreffen kann.

Als Graham und Wolff 1937 Migräne-Anfälle mit Ergotamin durchbrechen konnten und gleichzeitig eine Verengung der Schläfenarterie (A. temporalis) beobachteten, entwickelte Wolff eine moderne vasomotorische (die Gefäßnerven betreffende) Theorie der Entstehung der Migräne. Erst vor einigen Jahren konnte gezeigt werden, dass es auch unter Ergotamin kaum zu einer Verengung der großen Gefäße im Gehirn während eines Migräne-Anfalls kommt. Ähnliches gilt für die neu entwickelte Substanz Sumatriptan, die als sogenannter selektiver Serotoninagonist zwar sehr gut einen Migräne-Anfall durchbrechen kann, die aber nicht zu einer relevanten Verengung der großen Gehirnarterien führt.

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Es ist inzwischen bekannt,
dass bei einem Migräne-Anfall ein zentraler Mangel an dem Botenstoff Serotonin besteht. Ergotamin und Sumatriptan vermögen dies indirekt zu ersetzen, indem sie bestimmte Nervenzellen beeinflussen. Dies spricht für eine Ursache der Migräne im Bereich des Nervensystems. Gleichzeitig wirkt Serotonin an allen Gefäßen des Körpers etwas verengend. Heutzutage wird im Konsens von einer neurovaskulären Entstehung der Migräne gesprochen. Damit ist gemeint, dass der Beginn einer Migräne-Attacke wahrscheinlich in einer Störung von bestimmten Nervenzellen des Hirnstamms hegt und dass diese in Verbindung mit den Gehirngefäßen stehen, wo es zu einer Art Entzündung kommt, die wiederum für die Schmerzen verantwortlich ist. Warum die Nervenzellen im Hirnstamm gestört sind, ist noch immer nicht völlig aufgeklärt. Einen wichtigen Schritt in dieser Frage hat die genetische Forschung getan. Sie hat uns gezeigt, dass es für bestimmte seltene Formen der Migräne sicher und für die häufigen Formen sehr wahrscheinlich eine genetische Veranlagung gibt, mit der man schon auf die Welt kommt.

Mit diesen Ausführungen soll gezeigt werden, dass heute trotz der viel tieferen Detailkenntnisse über die Entstehung der Migräne deren eigentlicher Mechanismus im Grundsatz fast genauso unklar ist wie im Verlauf der Medizingeschichte. Der entscheidende Entwurf einer Theorie, die neuronale, vaskuläre und auch psychische Aspekte der Migräne-Entstehung berücksichtigt, ist bis heute nicht gelungen. Diese Unsicherheit steht in einer historischen Tradition, die von der Humoralpathologie Galens über das Bindeglied Thomas Willis bis zur modernen Gefäßtheorie nach Wolff und zum modernen Wissen um die neurovaskuläre Aktivierung reicht.

Prof. Dr. med. Dr. phil. Stefan Evers
Universitätsklinikum Münster

Artikel aus migräne magazin Heft 52