Kopfschmerzen bei Kindern

Dr. Raymund Pothmann. Zentrum für Kinderschmerztherapie, Hamburg

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Dass bereits Kleinkinder unter Migräne leiden, zeigen mehrere wissenschaftliche Untersuchungen. Man schätzt, dass im Vorschulalter schon bis zu 4% der Kinder von Migräne-Attacken geplagt sind; diese Zahl kann in der Pubertät bis auf 12% ansteigen. Oft aber fehlen bei Kindern die typischen Symptome. Dazu kommt, dass kleine Kinder nicht sagen können, was ihnen fehlt und wo es ihnen wehtut Wichtig ist es daher, auf die Symptome zu achten, die möglicherweise auf eine Migräne hindeuten.
Ursache dafür können einmal erbliche Faktoren sein, zum andern gibt es eine ganze Reihe äußerer Einflüsse, nicht zuletzt die Stressbelastung. Der Katalog der Warnsignale reicht von Schwindelanfällen und Verwirrtheitszuständen bis hin zu Appetitlosigkeit und Erbrechen. In jedem Fall sollten Sie Ihren Arzt aufsuchen, wenn Ihr Kind öfter als zweimal monatlich länger als zwei Stunden über Kopfschmerzen klagt! 

Kindliche Kopfschmerzen lassen sich in der kinderärztlichen Praxis relativ unproblematisch untersuchen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn es gilt, Kopfschmerzen bei Gehirntumoren zu erkennen und einer ursächlichen Therapie zuzuführen (z.B. Operation). Die meisten Kopfschmerzen sind jedoch eigenständige Kopfschmerzen ohne organische Ursache. Hierbei bereitet die Kopfschmerz-Therapie weiterhin Schwierigkeiten. Langfristig ist zu berücksichtigen, dass bestimmte Kopfschmerztypen wie z.B. die Migräne bei 50 % der Kinder auch im Erwachsenenalter weiterbestehen. Kopfschmerzen in der Familie und unkontrollierte häufige Schmerzmitteleinnahme bilden dabei ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung chronischer Kopfschmerzen.

Regelmäßig auftretende Kopfschmerzen müssen deshalb auch schon im Kindesalter frühzeitig, grundlegend und wirksam behandelt werden.

Definitionen
Nach den Vorschlägen der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft (IHS) lassen sich im Wesentlichen unterscheiden:

  • episodische Kopfschmerzen vom Spannungstyp mit < 15 Kopfschmerzereignissen pro Monat
  • chronische Kopfschmerzen vom Spannungstyp mit größer ≥ 15 Kopfschmerzereignissen pro Monat
  • Migräne ohne Aura, also ohne neurologische Symptomatik, aber mit Übelkeit und/oder Erbrechen bzw. Licht- und Lärmempfindlichkeit
  • Migräne mit Aura, das heißt: mit neurologischen Symptomen wie Augenflimmern, Gefühlsstörungen und/ oder Lähmungen usw.

Bestimmte Voraussetzungen müssen dabei erfüllt sein, wie eine Mindestdauer von einem halben Jahr. Eine Migräne beim Kind kann aber auch dann berücksichtigt werden, wenn das Kind dabei einschläft und nach wenigstens vier Stunden kopfschmerzfrei erwacht.

Epidemiologie
Die Häufigkeit von Kopfschmerzen bei Kindern hat während der letzten 30 Jahre deutlich zugenommen. Kopfschmerzerfahrungen haben ebenso wie in Skandinavien auch in Deutschland am Ende der Grundschulzeit fast alle Kinder. Aufgrund von Untersuchungen an 7000 deutschen Schülern handelt es sich dabei in ca. 60 % um Spannungskopfschmerzen, bei ca. 12 % um eine Migräne. Etwa 30 % der kindlichen Kopfschmerzen entziehen sich (noch) einer eindeutigen Klassifizierung. Unterschiede – speziell bei der Migräne – zwischen Jungen und Mädchen spielen keine wesentliche Rolle.
Ausschlaggebend für die Beratungs- und Behandlungsbedürftigkeit ist der mit den Kopfschmerzen verbundene Leidensdruck, der bei gut 15 % der betroffenen Kinder insbesondere dann angenommen werden kann, wenn die Kopfsehmerzen sehr häufig auftreten, stark sind bzw. lang anhalten, wiederholt Schule ausfällt und regelmäßig Schmerzmittel eingenommen werden.

Kopfschmerzkalender
Vor jeder Therapie müssen die Kopfschmerzen, die Auslöser und Ausfälle erst einmal in einen geeigneten Kopfschmerzkalender eingetragen werden. Anhand der Unterlagen ist der behandelnde Arzt manchmal erst in der Lage, eine richtige Kopfschmerzdiagnose zu stellen. Auch kann selbst bei langer bestehenden Kopfschmerzanfällen in dieser Phase schon bei ca. 10 % der Kinder eine deutliche Linderung auftreten.

Diagnostik
Eine kinderneurologische Untersuchung dient dazu, Ursachen von Kopfschmerzen wie einen Hirntumor, eine Epilepsie, Sehfehler oder eine Nasennebenhöhlenentzündung auszuschließen. Hierzu wird oft eine Hirnstromkurve abgeleitet (EEG). Bestehen die Kopfschmerzen erst über wenige Wochen oder Monate, muss gegebenenfalls eine Kernspintomographie (MRT) bzw. eine Nervenwasserpunktion durchgeführt werden, um ausreichende Sicherheit zu gewinnen.
Mögliche Auslöser von Kopfschmerzen wie übermäßiges Fernsehen, Computerspiele, Sport, Süßigkeiten, Ehrgeiz und Ärger in Schule oder Familie sollen erfragt werden. Hinweise ergehen sich oft schon aus dem ausgefüllten Fragebogenteil des Kopfschmerzkalenders. Hierdurch eröffnet sich die Möglichkeit, günstigere Verhaltensweisen mit dem Kind zu besprechen.
Eine ambulante kinderneurologische Untersuchung entlastet oft schon so sehr und bewirkt, dass die Kopfschmerzen in der folgenden Zeit seltener auftreten.

1. Behandlungsstufe: Allgemeine Maßnahmen
Reizabschirmende Maßnahmen wie spontanes Hinlegen in einem dunklen und leisen Kaum ist bei der Migräne als erster Schritt empfehlenswert. Ein kalter Lappen auf der Stirn ist ebenfalls hilfreich. Einmassieren von Pfefferminzöl an Schläfe und Nacken lindert leichte his mittelstarke Kopfschmerzen wirksam. Häufig schlafen die Kinder unter diesen Maßnahmen ein und erwachen nach Stunden oder am nächsten Morgen schmerzfrei« Hartnäckige, insbesondere einseitige Kopfschmerzen machen u. U. eine manualmedizinische Diagnostik und -therapie zur Behandlung von Funktionsstörungen der Halswirbelsäulengelenke erforderlich.

2. Behandlungsstufe: Medikamentöse Akutbehandlung
Oft wird Paracetamol – bekannt als Fieber Zäpfchen – als erstes Schmerzmittel eingesetzt. Wenn es nicht hilft, sollte besonders bei der Migräne ASS als Kau- oder Brausetablette bzw. Ibuprofen als Saft oder (Schmelz-)Tablette genommen werden. Dabei muss die Dosis ausreichend hoch gewählt werden, damit die Kopfschmerzen auch überzeugend nachlassen können.
Um Erbrechen zu vermeiden bzw. zu behandeln, sind Domperidon-Tropfen geeignet. 15 bis 20 Minuten später kann dann das jeweilige Schmerzmittel eingenommen werden.
Darüber hinaus steht für Spannungskopfschmerzen das gut verträgliche und muskelentspannende Flurirtin (Katadolon ) zur Verfügung. Bei fehlendem Ansprechen ist Metamizol (Novamin) einsetzbar. Die migränespezifische Behandlung läuft heutzutage über Triptane. Am besten hat sich Sumatriptan (Imigran) als Nasenspray (10-2O mg) bewährt. Über 70 % der Kinder profitieren innerhalb von 30 – 120 Minuten. Eine Alternative ist auch Ascotop als Nasenspray (Beide Nasensprays ab 12 Jahren zugelassen). Sprechen die Kopfschmerzen mit den selbst einnehmbaren Mitteln nicht (mehr) ausreichend an, kann eine Spritze in der Praxis, Spezialambulanz oder Klinik helfen. Zur Verfügung stehen vor allem das flüssige Aspisol in eine Vene und Imigran als Spritze unter die Haut.

Kindergrafik
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3. Behandlungsstufe: Intervall-Prophylaxe

Eine Migräne-Prophylaxe ist anzuraten, wenn eine Frequenz von mehr als drei Migräne-Anfällen pro Monat, hoher Leidensdruck z.B. durch häufiges Schulversäumnis, sehr starke Schmerzen und eine lange Anfallsdauer (>48h) besteht oder die Akutmedikamente nicht angeschlagen haben. Im Migräne- Kalender lässt sich dies gut belegen. In Frage kommen nur wirksame, gut verträgliche Substanzen, die über einen Zeitraum von einem viertel bis zu einem halben Jahr problemlos eingenommen werden können.

Belablocker:
Als wirksam gelten heute Propranolol und Metoprolol. Beide Mittel, abends in einer Dosis eingenommen, sind fast nebenwirkungsfrei. Nach dem Start z.B. mit 1/2 Tablette Metoprolol à 50mg abends wird nach einer Woche bereits die Enddosis von einer Tablette erreicht, vorausgesetzt das Körpergewicht beträgt mindestens 25kg. Das Medikament wird unter diesen Bedingungen sehr gut vertragen.

Kalziumeintrittsblocker:
Flunarizin ist bei Kindern wissenschaftlich sehr gut untersucht und hat sich seit über 30 Jahren bewährt. Die Dosierung beträgt bei Kindern meist eine Kapsel zu 5mg, ab einem Körpergewicht von 40kg 10mg abends. Nach 2 bis 4 Wochen kann sogar auf die Hälfte zurückgegangen werden. Nebenwirkungen wie leichte Müdigkeit und Gewichtszunahme sind vergleichsweise geringfügig und therapeutisch in der Regel nicht belastend. Flunarizin ist die bei kindlicher Migräne am besten untersuchte Substanz.

Azetylsalizylsäure (ASS):
Im direkten Vergleich mit Flunarizin bei Kindern mit Migräne hat niedrig dosierte Azetylsalizylsäure (z.B. Aspirin) in einer Dosis von 2 – 3 mg/kg Körpergewicht d.h. etwa einer 1/4 Brausetablette oder 100 mg einmal abends genauso gut abgeschnitten. Die niedrige ASS -Behandlung wurde gut vertragen. Sicherheitshalber sollte Ass jedoch während einer Grippe oder bei Windpocken nicht gegeben werden, um eine – in Deutschland allerdings sehr seltene – Form der Leberschädigung (Reye-Syndrom) zu vermeiden.

Antiepileptika:
Insbesondere bei Jugendlichen mit Gewichtsproblemen kann eine einmalige Einnahme von 25-50mg Topiramat abends eine gut abgesicherte Alternative darstellen. Höhere Dosen sind zu stark mit Nebenwirkungen belastet. Die klinische Erfahrung aus der Epilepsie-Behandlung im Umgang mit dieser Substanz bietet jedoch eine gute Basis, die den Einsatz des Mittels insbesondere bei Patienten mit EEG-Veränderungen zu rechtfertigen.

Ernährungsoptimierung
Kinder mit einer zugrundeliegenden Nahrungsmittelintoleranz leiden typischerweise an häufigen und schweren migräne-artigen Kopfschmerzen. Häufig bestehen zusätzliche Auffälligkeiten, wie gastrointestinale Beschwerden. Verhaltens- und Konzentrationsstörungen sowie ein chronisches Ekzem oder Asthma. Hier bietet sich eine oligoantigene Ernährung an. Eine derartige Ernährungsumstellung über 4 bis 6 Wochen kann bei ca. 90% der Kinder zum Erfolg führen. Die Auslöserstoffe einer Migräne lassen sich durch Wiedereinführung einzelner Nahrungsbestandteile identifizieren, wobei die meisten Kinder auf mehrere Stoffe reagieren. Labortests sind in aller Regel nicht geeignet, eine bestehende Intoleranz gegen bestimmte Lebensmittelzusatzstoffe zu diagnostizieren.

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Entsprechend der Häufigkeit empfiehlt es sich, folgende Nahrungsmittel für mindestens vier bis sechs Wochen zu vermeiden: Kuhmilch, Lebensmittelfarbstoffe (bunte Süßigkeiten und Limonaden, speziell Cola, Eistee) und Konservierungsstoffe, Schokolade, Weizenmehl, weicher Käse, Schweinefleisch speziell als Würstchen. In der Praxis bedeutet dies auch Verzicht auf viele liebgewonnene Fertigprodukte. Eine strenge Nahrungsmittelumstellung sollte in erster Linie bei Migräne mit hoher Frequenz (> 1x/Woche) zum Einsatz kommen und muss nach 6 Wochen überprüft werden. Klinische Erfahrungen sprechen bei jüngeren Kindern auch bei Spannungskopfschmerzen in zunehmendem Maß für eine Nahrungsmitteloptimierung, die bei über 50 % der Fälle erfolgreich sein kann. Nicht zu unterschätzen ist dabei auch der pädagogische Wert einer strukturierenden Ernährungsoptimierung, der vielen Familien den Anstoßgibt, sich wieder stärker aufeinander zu beziehen.

Verhaltenstherapie
Erfolgreiche psychotherapeutische Ansätze bei kindlichen Kopfschmerzen sind

  • Entspannungsverfahren, wie die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson
  • Biofeedback-Verfahren
  • Verhaltenstherapeutische Programme

Bei der Progressiven Muskelrelaxation lernen die Kinder die verschiedenen Muskeln ihres Körpers kennen, spannen sie für kurze Zeit an und entspannen sie dann wieder. Mit Hilfe dieser Methode werden sie sensibler für Anspannungen im Körper und können dann gezielt die Muskeln selbst entspannen. Im Autogenen Training wird Entspannung durch Vorstellungen von z.B. Wärme und Schwere erreicht.

Bei den Biofeedback-Verfahren wird meistens die Spannung der Stirn-Muskeln oder die Hauttemperatur – seltener die Weite der Schläfenarterie – aufgezeichnet und dem Kind z.B. durch einen Ton oder ein Bild zurückgemeldet. Die Kinder sollen dann dieses Signal beeinflussen und damit lernen, z.B. die Muskeln zu entspannen. Entspannungs- und Biofeedback-Verfahren sind vergleichbar wirksam bei Kopfschmerzen. Die Entspannungsverfahren können die Kinder geräteunabhängig z.B. vor einer Klassenarbeit einsetzen. Die Biofeedback-Verfahren motivieren Kinder sehr, da sie an Videospiele erinnern.

Verhaltenstherapeutische Programme
Ein solches Programm wird in der Gruppe durchgeführt. Denkbar ist auch die Durchführung in der Schule unter geschulter Anleitung, vorausgesetzt, es findet freiwillig statt. Kopfschmerzstärke und -häufigkeit sowie die Anzahl der kopfschmerzfreien Tage sollen während der Trainingszeit über etwa 3 Monate dokumentiert werden. Die Wirksamkeit der verschiedenen Verfahren liegt zwischen 60 %. Damit eignen sich verhaltenstherapeutische Methoden besonders gut für länger bestehende Kopfschmerzen.

Transkutane Elektrische Nervenstimulation (TENS)
Bei diesem Verfahren stimuliert das Kind selbst (ab dem 6. Lebensjahr) zuhause ein- bis zweimal 30 Minuten täglich mit Hilfe von selbstklebenden Plättchen im Nacken. TENS ist bei Spannungskopfschmerzen wirksamer als bei Migräne. Vorteilhaft ist in der Langzeitanwendung bei Kombinationskopfschmerzen, dass sich die Kinder unabhängig vom Therapeuten und von Medikamenten behandeln und damit Kontrolle über ihre Schmerzen erwerben können. Nach einem bis zu drei Monaten leiden ungefähr vier Fünftel der Kinder mindestens 50% weniger an Spannungskopfschmerzen.

Akupunktur
Akupunktur kann in der Migräne-Therapie bei entsprechend motivierten Kindern und Eltern als Reservemethode wirksam eingesetzt werden, vor allem wenn Nebenwirkungen durch Medikamente aufgetreten sind. Akupunktur ist über 8 bis 10 Behandlungen hinweg mit einer Behandlung pro Woche etwa so wirksam wie andere Migräne-Kurmittel. Nachteilig ist aber, dass es letztlich zu wenige Spezialisten für Akupunktur bei Kindern gibt. Außerdem ist die Methode nur bedingt über die Krankenkassen abrechenbar.

Homöopathie
Bei Kindern liegen für die Kopfschmerztherapie noch keine kontrollierten Studien vor. Eine kurmäßige Anwendung des Komplexmittels Antimigren® bei Kleinkindern könnte unter Umständen bessere Ergebnisse erbringen als bei Erwachsenen.

Dr. Raymund Pothmann
Zentrum für Kinderschmerztherapie, Hamburg
www.delfin-kids.de
Foto: © migräne magazin