Als Therapie für chronische Migräne weckte die okzipitale Nervenstimulation (ONS), bei der man Elektroden am Hinterkopf implantiert, große Hoffnungen. Im Oktober 2014 verlor die Methode jedoch mit dem CE-Kennzeichen die Zulassung zur Behandlung der chronischen Migräne. Die MigräneLiga bekommt von ihren Mitgliedern immer wieder Anfragen dazu. Um über den aktuellen Stand zu informieren, hat die Redaktion des migräne magazins den Hersteller, die Firma St. Jude Medical, sowie zwei ärztliche Experten um eine Stellungnahme gebeten.
Das Unternehmen arbeitet daran, die CE-Zulassung zurück zu erlangen
Stellungnahme von St. Jude Medical, Eschborn
Aufgrund
von Änderungen an den bestehenden therapeutischen Benchmarks, die bei
der Erteilung der CE-Zulassung für die Therapie mittels
Okzipitalnervenstimulation (ONS) angesetzt worden waren, hat die
Europäische Benannte Stelle festgestellt, dass die gegenwärtig
verfügbaren Daten nicht ausreichen, um die CE-Zulassung für die
ONS-Therapie von St. Jude Medical zur Behandlung der therapieresistenten
chronischen Migräne aufrechtzuerhalten. Als Reaktion auf diese
Entscheidung wird St. Jude Medical weiter mit dem TÜV kooperieren, um
die wissenschaftliche Evidenz zu erbringen, die gefordert wird, um die
Vorteile der ONS bei Patienten mit therapieresistenter chronischer
Migräne aufzuzeigen und dadurch die CE-Zulassung zurück zu erlangen.
Aktuelle Daten aus dem von St. Jude Medical durchgeführten europäischen
Post-Market Clinical Follow-up (PMCF) verdeutlichen erneut das insgesamt
günstige Nutzen-/Risiko- Verhältnis der ONS-Therapie. Darüber hinaus
bestätigen unsere PMCF-Daten frühere Ergebnisse der Pivotstudie, die als
Grundlage für die klinische Evaluierung zur Erlangung der CE-Zulassung
im Jahr 2011 diente. Die PMCF-Daten zeigen, dass die ONS-Therapie eine
insgesamt niedrigere Komplikationsquote bietet, verglichen mit den
Beobachtungen in der Pivotstudie, ebenso eine anhaltende Wirksamkeit bei
Patienten, die an therapieresistenter chronischer Migräne leiden.
Neben
der engen Kooperation mit dem TÜV werden wir auch intensiv mit den
Ärzten zusammenarbeiten, die sich bei der Behandlung ihrer Patienten auf
unsere ONS-Therapie verlassen haben und der Überzeugung sind, dass es
sich hierbei um eine sichere und wirksame Therapie für Patienten
handelt, bei denen alle anderen Therapieoptionen bereits ausgeschöpft
waren. Zudem planen wir, die an unserer aktuellen ONS PMCF-Studie zur
Behandlung der therapieresistenten chronischen Migräne teilnehmenden
Patienten weiter zu betreuen und die daraus resultierenden Daten zu
analysieren. Wie immer gehen wir davon aus, dass wir diese Daten in
einem öffentlichen Forum präsentieren können, sobald die Studie
bedeutsame Etappenziele erreicht hat.
Wir werden auch weiterhin
voller Tatendrang in die Forschung und Entwicklung der ONS-Technologie
investieren, erkennen wir doch deutlich das Potenzial, das diese für die
Lebensqualität der Patienten zu bieten hat, bei denen bereits mehrere
Therapien versagt haben, und für die es gegenwärtig keine anderen
Behandlungsoptionen gibt, um die therapieresistente chronische Migräne
adäquat zu behandeln.”
Das Verfahren muss verbessert werden
Stellungnahme von Dr. Axel Heinze und Dr. Katja Heinze-Kuhn, Schmerzklinik Kiel
Als
die Firma St. Jude Medical am 20. September 2012 in einer
Pressemitteilung (1) berichtete, für ihre voll implantierbaren
Neurostimulationsgeräte der Produktreihen Genesis™ und Eon™ das
CE-Kennzeichen und damit eine behördliche Zulassung zur Behandlung von
Patienten mit therapierefraktärer chronischer Migräne erhalten zu haben,
waren die Hoffnungen groß. In der Presseerklärung berichtete St. Jude
Medical, vor dem Erhalt dieser Zulassung eine umfangreiche
randomisierte, doppelt verblindete und kontrollierte klinische Studie
durchgeführt zu haben, um die Behandlung der Schmerzen und
Einschränkungen im Zusammenhang mit chronischer Migräne mit einer
Peripheren Nervenstimulation (im allgemeinen Sprachgebrauch: okzipitale
Nervenstimulation ONS) auszuwerten. Nach 12-wöchiger
Stimulationsbehandlung hätten die Patienten im Durchschnitt von sechs
Kopfschmerzanfällen weniger pro Monat berichtet. Nach einem Jahr hätten
65 Prozent der Patienten über eine hervorragende oder gute
Schmerzlinderung berichtet, und 89 Prozent hätten angegeben, dass sie
die Methode weiterempfehlen würden.
Bedingte Empfehlung in Leitlinien
Im
Dezember 2012 wurden die genauen Studiendaten im Fachblatt Cephalalgia
publiziert (2). Hier wurde nun deutlich, dass der eigentliche primäre
Zielparameter der Studie verfehlt wurde: Eine angestrebte Halbierung der
durchschnittlichen täglichen Schmerzintensität (VAS) erreichten nur
17,1 Prozent der Patienten unter Stimulation im Vergleich zu 13,5
Prozent der Patienten in der Kontrollgruppe (Scheinstimulation). Der
Unterschied war nicht signifikant.
Betrachtete man jedoch die Anzahl
der Patienten, bei denen sich die Zahl der Kopfschmerztage mindestens um
30 Prozent reduzierte, zeigte sich ein klarer Vorteil in der
Stimulationsgruppe gegenüber der Kontrollgruppe. Auch die
migränebedingte Behinderung (MIDAS-Score) nahm unter Stimulation
gegenüber der Kontrollgruppe signifikant ab. Bei den insgesamt 157
Studienpatienten mit implantierten Neurostimulatoren kam es zu 97
unerwünschten Ereignissen, die auf die Stimulation zurückgeführt wurden
und die in 49 Fällen einen erneuten operativen Eingriff erforderlich
machten.
Die Ergebnisse der Studie belegten damit auf den ersten
Blick eine nur begrenzte Wirksamkeit der ONS bei chronischer Migräne,
gleichzeitig war die Komplikationsrate beträchtlich. Allerdings handelte
es sich bei den Studienteilnehmern um schwer betroffene Patienten, bei
denen bislang weder vorbeugende Medikamente noch eine migränespezifische
Attackenmedikation (Triptane oder Ergotamine) wirksam gewesen waren.
Konsequenterweise empfahlen die aktuellen Leitlinien der Deutschen
Gesellschaft für Neurologie (Stand 09/2012) zur Therapie der Migräne
daher den Einsatz der ONS als invasives neuromodulierendes Verfahren nur
bedingt bei einer chronischen Migräne mit zusätzlicher
Therapieresistenz und innerhalb prospektiver Studien (3).
Am 10.
Oktober 2014 informierte die Firma St. Jude Medical schriftlich in einer
„wichtigen Produktinformation” (4) über eine Entscheidung der
europäischen Zulassungsbehörden: Demnach hätten die verfügbaren Daten
aus dem klinischen Post-Market Follow-Up nicht überzeugend genug
demonstriert, dass der Nutzen der Therapie das vorhandene Risiko zu
diesem Zeitpunkt überwiege. Die Firma St. Jude Medical bitte daher, von
der Nutzung ihrer Neurostimulatoren und Elektroden zum Gebrauch der
Okzipital- Nervenstimulation Abstand zu nehmen. Die Indikation ONS zur
Therapie behandlungsresistenter chronischer Migräne sei aus der
Produktinformation/ Gebrauchsanleitung der entsprechenden
Neurostimulatoren entfernt worden. Zugelassen seien die Geräte weiterhin
für therapieresistente chronische Schmerzen am Rumpf und den
Gliedmaßen.
Die Komplikationsrate ist hoch
Konkret
bedeutet dies, dass derzeit keine Firma mehr eine behördliche Zulassung
in Form eines CE-Kennzeichen für Neurostimulatoren besitzt, um
Patienten mit therapierefraktärer chronischer Migräne mittels ONS zu
behandeln. Aktuelle Veröffentlichungen der letzten zwei Jahre und
umfangreiche eigene Erfahrungen haben gezeigt, dass die ONS eine
Wirksamkeit bei chronischer, ansonsten komplett therapierefraktärer
Migräne besitzt, die jedoch nicht über die Wirksamkeitsdaten der ersten
Studien hinausgeht (5). Die Wirksamkeit bei chronischem
therapierefraktärem Clusterkopfschmerz erscheint deutlich höher (6).
Unabhängig von der Indikation ist die Komplikationsrate bei Einsatz des
heute zur Verfügung stehenden Materials (Neurostimulator, Elektroden,
Verlängerungskabel) und der angewandten Operationstechniken jedoch sehr
hoch. Den Hauptteil der unerwünschten Komplikationen machen Kabelbrüche
und Infektionen aus, zudem können die Elektroden verrutschen und
eventuell sogar die Haut durchstoßen (Elektrodendislokationen mit und
ohne Hautperforation). All dies macht in der Regel erneute operative
Eingriffe erforderlich.
Aus unserer Sicht sind Verbesserungen von
Material und OP-Technik mit dem Ziel einer Reduktion der
Komplikationsraten unumgänglich, bevor die ONS wieder als Ultima ratio
zur Behandlung therapieresistenter chronischer Kopfschmerz- Erkrankungen
in Erwägung gezogen werden könnte. Die Anwendung sollte auch dann
grundsätzlich nur im Rahmen von prospektiven Studien und unter Aufsicht
der zuständigen Zulassungsbehörden erfolgen.
Fußnoten (im Text in Klammer):
1. www.enhancedonlinenews.com/news/eon/ 20120920006394/en/CE-Mark-approval/occipital-nerves/PNS.
2.
Silberstein SD, Dodick DW, Saper J, Huh B, Slavin KV, Sharan A, Reed K,
Narouze S, Mogilner A, Goldstein J, Trentman T, Vaisman J, Ordia J,
Weber P, Deer T, Levy R, Diaz RL, Washburn SN, Mekhail N. Safety and
efficacy of peripheral nerve stimulation of the occipital nerves for the
management of chronic migraine: results from a randomized, multicenter,
double-blinded, controlled study. Cephalalgia. 2012 Dec;
32(16):1165-79.
3. www.dgn.org/leitlinien/2298-ll-55-2012-therapie-der-migraene#neuromodulation.
4. www.swissmedic.ch/recalllists_dl/10612/Vk_20141022_21-e1.pdf.
5.
Dodick DW, Silberstein SD, Reed KL, Deer TR, Slavin KV, Huh B, Sharan
AD, Narouze S, Mogilner AY, Trentman TL, Ordia J, Vaisman J, Goldstein
J, Mekhail N. Safety and efficacy of peripheral nerve stimulation of the
occipital nerves for the management of chronic migraine: Long-term
results from a randomized, multicenter, double-blinded, controlled
study. Cephalalgia. 2014 Jul 30.
6. Mueller O, Diener HC, Dammann P,
Rabe K, Hagel V, Sure U, Gaul C. Occipital nerve stimulation for
intractable chronic cluster headache or migraine: a critical analysis of
direct treatment costs and complications. Cephalalgia. 2013;
33(16):1283-91.