Wenn Gerüche zur Belastung für Menschen mit Migräne werden

neue Migränestudie und Therapieansätze

Presseinformation der DMKG vom 05.09.2022

Wenn Gerüche zur Belastung für Menschen mit Migräne werden – neue Migränestudie und Therapieansätze

5. September 2022 – Ein Drittel der Menschen mit schwerer und langjähriger Migräne besitzt offenbar eine permanente Geruchsüberempfindlichkeit – auch zwischen ihren Migräneattacken. Am häufigsten als störend empfinden sie süßes Parfüm (36 Prozent), Essensgerüche (22 Prozent) und Zigarettenrauch (12 Prozent). Je länger und je stärker sie unter ihrer Erkrankung leiden, desto häufiger ist diese Überempfindlichkeit gegen Gerüche, genannt Osmophobie, festzustellen. Etwa 30 Prozent der Patienten nennen Gerüche auch als Auslöser für Migräneattacken. Dies berichtet heute Privatdozentin Dr. med. Gudrun Goßrau auf einer Pressekonferenz der Initiative »Attacke! Gemeinsam gegen Kopfschmerzen«. Die neuen Daten stammen aus einer gemeinsamen Studie des UniversitätsSchmerzCentrums (USC) und des Interdisziplinären Riechzentrums des Universitätsklinikums Dresden1, die vor Kurzem im Journal of Headache and Pain veröffentlicht wurde. „Diese Erkenntnisse können zu neuen Therapieansätzen führen, etwa einem strukturierten Riechtraining zur Desensibilisierung, das bereits in Dresden entwickelt wird“, so die Vizepräsidentin der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft.

Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland 8 bis 10 Millionen Personen von einer Migräne betroffen sind.2 Migräne ist weltweit in der Altersgruppe 15-49 Jahre auf dem ersten Platz aller Erkrankungen gemessen an der Beeinträchtigung (years lived with disability).3 Migränepatienten sind bekanntlich sehr häufig sensorisch empfindlich nicht nur für Gerüche, sondern auch für Licht und Geräusche.

Bekannt war bisher, dass Gerüche Migräneattacken auslösen können. Neu ist, dass Patienten mit längerer Erkrankungsdauer der Migräne und höherer migränebedingter Alltagseinschränkung häufiger eine Geruchsüberempfindlichkeit zeigen als weniger betroffene. Bei Migräneformen mit Aura tritt die Geruchsempfindlichkeit doppelt so häufig auf wie bei Formen ohne Aura.
Neben süßem Parfüm, Essensgerüchen und Zigarettenrauch wurden von den Studienteilnehmern besonders häufig auch Abgase, abgestandene Raumluft, Blumenduft, Lack- und Gasgeruch erwähnt.

Aktivierung eines ganzen Schmerzsystems

Die Studie legt nahe, dass die unangenehmen Düfte nicht nur den Riechnerv (N. olfactorius) aktivieren, sondern auch den Trigeminusnerv, der für die Schmerzwahrnehmung am Kopf verantwortlich ist. Das olfaktorische und das trigeminale System sind auf neuronaler Ebene miteinander verbunden. So kann man etwa im Versuch nachweisen, dass eine Reizung des Trigeminusnervs Aktivitäten der olfaktorischen, also für Geruchswahrnehmung zuständigen Hirnareale auslöst. Auch die Riechschleimhaut ist von sensorischen Fasern des Trigeminus durchzogen. Diese enge Vernetzung von Duft- und trigeminalen Schmerzsystem bietet einen Erklärungsansatz, warum Düfte Kopfschmerzen auslösen können. Bei Corona-Infizierten konnte beobachtet werden, dass sie längere und schwerere Migräneschübe aufwiesen. Man nimmt an, dass die Verstärkung der Migräne über die Infektion der Riechschleimhäute und die Entzündung der Trigeminus-Nervenfasern durch SARS Cov-2 verursacht wird.

Desensibilisierungstherapie in der Erforschung

Das Vermeiden der Geruchstrigger könnte ein Ansatz für neue Therapieformen sein. Vielversprechender und nachhaltiger sei aber der aktuell beforschte Ansatz der Desensibilisierung für unangenehme Düfte, so die Leiterin der Kopfschmerzambulanz am Universitätsklinikum Dresden. Dort finden auch therapeutische Studien statt. So trainierten Versuchspersonen ihren Geruchssinn regelmäßig mit z.B. Rosen- und Zitronendüften. Daraufhin nahm die Kopfschmerzstärke zwar nicht ab, aber die Schmerzwahrnehmungsschwelle stieg. Das heißt: Nach dem Riechtraining waren die Betroffenen weniger empfindlich für Schmerzreize. Diese Daten aus einer Studie mit Kindern mit Migräne wurden aktuell in einer Therapiestudie mit Erwachsenen mit Migräne bestätigt. Derzeit ist die Untersuchung der zugrundeliegenden Gehirnmechanismen mittels MRT Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchungen.

Methoden

Die aktuell publizierte Querschnittstudie1 basiert auf einer Befragung von 113 Personen (99 weiblich, 14 männlich) im Alter von 19 bis 78 mit episodischer oder chronischer Migräne. Die Krankheit wurde mit der International Classification of Headache Disorders III von einem spezialisierten Neurologen bewertet. Der Schweregrad der Migräne wurde mit dem Migraine disability assesment score (MIDAS) ermittelt.

Quellen:

1 Gudrun Gossrau, Marie Frost, Anna Klimova, Thea Koch, Rainer Sabatowski, Coralie Mignot, Antje Haehner. J Headache Pain. 2022 Jul 15;23(1):81. Interictal osmophobia is associated with longer migraine disease duration. doi: https://doi.org/10.1186/s10194-022-01451-7

2 Pfaffenrath V, Fendrich K, Vennemann M, et al. Regional variations in the prevalence of migraine and tension-type headache applying the new IHS criteria: the German DMKG Headache Study. Cephalalgia. 2009;29(1):48-57. doi: 10.1111/j.1468-2982.2008.01699.x

3 Steiner T, Stovner L, Vos T, Jensen R, Katsarava Z. Migraine is first cause of disability in under 50s: will health politicians now take notice? J Headache Pain. 2018;19(1):17. doi: 10.1186/s10194-018-0846-2

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Die Aufzeichnung der Pressekonferenz finden Sie hier: Online-Pressekonferenz

Fachlicher Kontakt für Medien
PD Dr. Gudrun Goßrau
Fachärztin für Neurologie – Spezielle Schmerztherapie, Leiterin der Kopfschmerzambulanz, Universitätsklinikum Dresden
gudrun.gossrau2@uniklinikum-dresden.de